Ausschnitt aus dem Straßburger Spielbild, bearbeitet: 2 Brummkreisel, einer aufrecht drehend, einer liegend tot.

lebendig – tanzend – schlafend – tot 

Wenn ein Kreisel in Bewegung gesetzt wird, wird aus den einfachen Stück Holz etwas Anderes, etwas Lebendiges, Tanzendes, gar ein Wundertier.

aber was für ein ganz anderer Gegenstand ist er, wenn er tanzt;1

Diese Verwandlung scheint einen großen Anteil daran zu haben, dass der Kreisel viele Menschen fasziniert. Das Straßburger Spielbild von 1632 zeigt den Brummkreisel (Habergeis genannt) mit dem folgenden Kommentar2:

Hilf Gott, wie schreyt die Habergeiß
Wie brummet sie, daß wers nicht weiß, 
Meynet, es sey ein Wunderthier,
Biß ihr die Krafft entgangen schier!
Dann wird sie still, ist ein leer Ding,
Ist nur ein holes Holtz gering.

Das gleiche Motiv nimmt Kafka in seiner Erzählung „Der Kreisel“ auf. Ein Philosoph nimmt an, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel auch eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Aber immer, wenn er nach dem Kreisel greift, den die Kinder antreiben, hat er nur „das dumme Holzstück“ in der Hand und ist maßlos enttäuscht und verärgert über seinen Misserfolg.3 (Vgl. Beitrag zu Philosophie)

Denn wenn der Schwung nachlässt, gilt: „er bleibt ein Holz noch wie vorher“.4

Leben und Tod

Häufig wird der drehende Kreisel als lebendig betrachtet. 

Dieses „Holzstück“ steht zum „sich drehenden Kreisel“ wie die Leiche zum Leben.5

Bei wenigen Spielsachen trifft die Illusion, etwas Lebendiges vor und zu haben, das sich unserer Macht fügen muß, so deutlich hervor wie hier.6

Pädagogen loben gar den erzieherischen Wert, wenn es gelingt, „etwas Totes gleichsam zum Leben zu erwecken.7 Beim Peitschenkreisel kommt hinzu, dass es die Schläge mit der Peitsche sind, die den Kreisel an Leben halten.

Man schlägt nicht um ihn tot zu schlagen, sondern hält ihn damit am Leben.8

Aber auch der Wurfkreisel wird durch den Wurf zu einem lebenden Ding:

De Werptol, met de Snoer omwonden,
En weggesmeeten, uit de hand,
Werd als een levend Ding bevonden,
Tot vreugd van’t kinderlyk verstand:
Zo moet Gods Band het Hert omgeeven,
Dan zal het namaals Eeuwig leeven.9

Der Wurfkreisel, mit der Schnur umwunden, und weggeschmissen, aus der Hand, wird als ein lebend Ding befunden, zur Freude des kindlichen Verstands: So muss Gottes Band das Herz umgeben, dann wird es später ewig leben.

Auch Nikolaus von Kues benutzt diesen Vergleich: „wie der Knabe, der einen toten oder bewegungslosen Kreisel lebendig machen will,“ und leitet daraus „ein Bild des Schöpfers, der dem Nicht-Lebenden den Lebenshauch geben will“ ab. 10

Tanz

Naheliegend ist der Vergleich des drehenden Kreisels mit dem Tanz. In zahllosen Texten wird vom tanzenden Kreisel gesprochen.

Und der Kreisel tanzte herum und schnurrte (Andersen11)

Dieser Vergleich findet sich auch in vielen Benennungen des Kreisels wieder: Tanzdopp, Tänzelmännchen, Peitschentänzer, Tänzerweibla, Danzknöpfle und viele andere12.  

Aber der Vergleich wird auch umgekehrt gebraucht: In einer Kampfschrift aus dem Jahr 1545 gegen das Tanzen vergleicht Pfarrer Melchior Ambach die Tanzenden mit einem Kreisel:

Tanzen ist eine Uebung, nit vom Himmel kommen, sondern von dem Teufel erfunden… Man betrachte doch das Tummeln, das Herumschweifen, das Auswerfen der Beine, das Hintersichlaufen, danach Vorlaufen, sich wie ein Rad drehen, die Erde mit den Füssen klopfen, wie ein Kreisel herumhaspeln und wirbeln…“13

Andererseits sind viele Musikstücke, insbesondere Drehtänze wie Polka, nach dem Kreisel benannt worden.

Schlaf

Besonders angetan hat es den Menschen der Zustand, wenn sich der Kreisel so schnell und ruhig dreht, dass er stillzustehen scheint. Wenn man die Bewegung nicht mehr wahrnimmt, sagt man „Der Kreisel schläft“.

Je größer die Kraft seines Armes ist, desto schneller wird der Kreisel herumgewirbelt, und zwar so, daß er gerade in der schnellsten Bewegung stillzustehen scheint; dann sagen die Kinder: er ruht und schläft. (Nikolaus von Kues14)

daß die Kreisel ja mit allen ihren Teilen gleichzeitig stillstehen und sich bewegen, (Platon 15)

Auch ein normaler Spielzeugkreisel fällt um, wenn er auf die Spitze gestellt wird. Erst wenn man ihn vorher in schnelle Drehung versetzt, bleibt er auf der Spitze stehen; aus einer labilen wird eine (dynamisch) stabile Situation. Bemerkenswert ist dabei, daß der schnell rotierende Kreisel den Eindruck völliger Bewegungslosigkeit vermittelt. Wie sehr der Eindruck täuscht, erfährt man jedoch dann, wenn man versucht, den Kreisel in dieser schlafähnlichen Situation zu stören. Selbst bei dem geringsten Versuch, ihn umzukippen, erweist er sich als erstaunlich wach, indem er der Störung einen umso heftigeren Widerstand entgegensetzt, je schneller er rotiert. 16

Dieser Zustand des ruhelosen Stillstands gibt auch zu kulturpessimistischen Vergleichen Anlass: Vgl. Aßmann im Beitrag zu Philosophie.


  1. Perry, John; Drehkreisel, Leipzig und Berlin, Teubner; 1904 (Orginal 1890), S. 6 ↩︎
  2. Johannes Bolte, Zeugnisse zur Geschichte unserer Kinderspiele. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, 19. 1909, S. 399, https://www.digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001674460/393/ ↩︎
  3. Kafka, Franz; Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1994, Seite 176-177 ↩︎
  4. Cats, Jacob; Kinder-spel (1628) in der Übersetzung von Johann Heinrich Ammann mit Kupferstichen von Conrad Meyer (1657) ↩︎
  5. Feng, Guoqing; Kreisel für Erwachsene : zur Kürzestprosa in der Gegenwartsliteratur in Österreich: Thomas Bernhard, Elias Canetti und Erich Fried, Frankfurt u. a. : Lang ; 1993, S. 198 (zu Kafka) ↩︎
  6. Groos, Karl; Die Spiele der Menschen, G. Fischer, 1899, S. 139 ↩︎
  7. Kischnick, Rudolf; Was die Kinder spielen, Stuttgart : Verlag Freies Geistesleben; 1982 ↩︎
  8. Luiken, Jan; Des menschen Begin, Midden en Einde, Amsterdam, 1719, S. 77. http://diglib.hab.de/drucke/lp-84/start.htm?image=00119 ↩︎
  9. Luiken, a. a. O., S.79 ↩︎
  10. Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus); Trialogus de possest (1460), Dreiergespräch über das Können-Ist https://cusanus-portal.de/content/fw.php?werk=335&ln=dupre&dupre_fw=23 ↩︎
  11. Andersen, Hans Christian; Das Liebespaar, 1862 ↩︎
  12. Henk, Ottilie; Deutscher Wortatlas, Band 12 : Der Kreisel, Giessen : Wilhelm Schmitz, 1962 ↩︎
  13. „Von dem üppigen gewöhnlichen Tanzen“ von Pfarrer Melchior Ambach, Frankfurt am Main, 1545, nach http://www.datacomm.ch/resi/tanzen/wienerwa.htm ↩︎
  14. Nikolaus von Kues (Nicolaus Cusanus); Trialogus de possest (1460), Dreiergespräch über das Können-Ist, Lateinisch-Deutsche Fassung in der Übersetzung von Renate Steiger, Hamburg : Felix Meiner Verlag, 1991. ↩︎
  15. Platon: Über den Staat, IV 436e, zit. aus Sämtliche Werke, Verlag Lambert Schneider, Berlin 1950 ↩︎
  16. Schlichting, H. Joachim; Kreiselphänomene, Praxis der Naturwissenschaft- Physik 41/2, 11 (1992) ↩︎