Schematische Darstellung zu dem Text Trialogus-de-possest mit den dort erwähnten Punkten A,B,C,D,E

Philosophie

Die Philosophen haben immer sich immer wieder mit dem Kreisel beschäftigt und ihn zu Vergleichen herangezogen. Dabei interessiert sie besonders der Zustand des Kreisels, in dem er sich so schnell dreht, dass er stillzustehen scheint („Der Kreisel schläft“ sagten die Kinder).

  

Platon

Über den Staat

Platon (427-347 v.) diskutiert in seinem Werk „Über den Staat“ die Frage, inwieweit bestimmte Eigenschaften des Gemeinwesens auf die Eigenschaften der einzelnen Menschen zurückzuführen sind. Insbesondere untersucht er die Frage, ob verschiedene Eigenschaften aus derselben Quelle entspringen oder aus mehreren:

Ob wir mit dem einen von dem, was in uns ist, lernen, mit dem anderen zornig sind und mit einem dritten Begierde haben (…), oder ob wir mit der ganzen Seele jedes einzelne davon verrichten, wenn wir dazu den Anlauf genommen haben?

Zunächst wird klargestellt, dass 

Einunddasselbe keine Lust haben wird, das Entgegengesetzte gleichzeitig und in einer und derselben Beziehung und einer und derselben Richtung zu tun oder zu leiden.

Dann gilt es, alberne Gegenargumente auszuschalten wie das, dass man sich gleichzeitig bewegen und stillstehen könne, indem man im Stehen mit dem Kopf wackelt, weil in diesem Fall natürlich das eine sich bewegt und das andere still steht. Das gilt auch für den nicht ganz so offensichtlichen Fall des schlafenden Kreisels:

Also auch wenn derjenige, der dieses sagte, noch mehr scherzen und witzig bemerken würde, daß die Kreisel ja mit allen ihren Teilen gleichzeitig stillstehen und sich bewegen, wenn sie, ihre Spitze auf demselben Punkte fest aufsetzend, sich umdrehen, oder daß auch etwas anderes, das auf der Stelle im Kreise herumgeht, dies tue, so würden wir es nicht gelten lassen, weil in diesem Falle nicht die nämlichen Teile an sich ruhig und in Bewegung sind; sondern wir würden sagen, sie haben Gerades und Rundes an sich, und mit dem Geraden stehen sie still, da sie sich ja nach keiner Seite neigen , mit dem Runden aber drehen sie sich im Kreise;

Platon: Über den Staat, IV 436e, zit. aus Sämtliche Werke, Verlag Lambert Schneider, Berlin 1950
Nikolaus von Kues. 1

Nikolaus von Kues

Vom Können-Sein (Nicolai de Cusa: Trialogus de possest) 1460

Nikolaus von Kues (1401-1464), in Kues an der Mosel geboren, studierte Mathematik und Theologie, hatte zahlreiche kirchliche Ämter, seit 1450 Bischof von Brixen (Südtirol), und war einer der bedeutendesten Philosophen des 15. Jahrhunderts.

Jürgen Kuhlmann fasst den Vergleich so zusammen:

In der Schrift »Possest« (Können-Ist) erinnert 1460 Nikolaus von Kues, der damals fast sechzigjährige Bischof von Brixen, zwei Freunde an »das uns allen auch aus eigener Übung bekannte Kreiselspiel der Knaben«: […] Der Kreisel ist Symbol für Gott, unendlich schöpferische Energie; der Boden, wo der Kreisel sich dreht, steht für unsere irdische Wirklichkeit. Lassen wir die Sonne senkrecht am Himmel stehen und achten wir auf den Schatten des Kreisels. Seine beiden Punkte links und rechts außen sind voneinander entfernt. Irgendein Außenpunkt des sich drehenden oberen Kreises ist erst über dem einen, dann über dem anderen unteren Punkt. Je schneller der Kreisel sich dreht, um so weniger Zeit liegt zwischen beiden Positionen; bei unendlicher Bewegung – nur sie kann Gott bedeuten – ergibt sich, was Nikolaus zeigen will: »Was in dieser Welt zeitlich auseinanderliegt, ist vor Gott in der Gegenwart, und was in Gegensatzweise voneinander absteht, besteht dort verbunden; und was hier verschiedenes ist, ist dort ein und dasselbe.«


Jürgen Kuhlmann, Der Himmlische Kreisel, Nikolaus und der Kreisel – wie ein Spielzeug einen Philosophen fasziniert 2

Der Text von Nikolaus von Kues, in Original in Latein, ist auch in der Übersetzung nicht ganz leicht zu verstehen:

Kardinal:  Als Grundlage nehme ich das uns allen auch aus eigener Übung bekannte Kreiselspiel der Kinder. Der Knabe wirft den Kreisel aus und im Auswerfen zieht er ihn gleichzeitig mittels einer darum gewickelten Schnur zurück. Je größer die Kraft seines Armes ist, desto schneller wird der Kreisel herumgewirbelt, und zwar so, daß er gerade in der schnellsten Bewegung stillzustehen scheint; dann sagen die Kinder: er ruht und schläft. Ziehen wir also einen Kreis mit den Punkten B und C, der sich über A dreht, gleichsam als der obere Kreis des Kreisels; ein zweiter Kreis, der durch D E verläuft, sei fest. Ist es nicht so, daß der bewegliche Kreis sich umso weniger zu bewegen scheint, je schneller er sich dreht? […]

Johannes: Wenn die Bewegung die äußerste Grenze der Geschwindigkeit erreicht hätte, dann wären die Punkte B und C in dem selben Zeitpunkt wie der Punkt D des festen Kreises, ohne daß der eine Punkt, z. B. B, früher wäre als C; sonst wäre es nicht die größte und unendliche Bewegung. Trotzdem wäre es nicht Bewegung, sondern Ruhe, weil sich jene beiden Punkte niemals von D, dem festen, entfernten.

Die gesamte Argumentation lässt sich sehr schön im Cusanus-Portal nachlesen.

Immanuel Kant: 

Über Pädagogik, 1803

Kant sieht die Beschäftigung mit dem Kreisel eher unter praktischen Gesichtspunkten für die Wissenschaft:

Der Kreisel ist ein besonderes Spiel; doch geben solche Kinderspiele Männern Stoff zum weiteren Nachdenken und bisweilen Anlaß zu wichtigen Erfindungen. So hat Segner eine Disputation vom Kreisel geschrieben3, und einem englischen Schiffskapitän hat der Kreisel Gelegenheit gegeben, einen Spiegel zu erfinden, durch den man auf dem Schiffe die Höhe der Sterne messen kann.

Kant, Immanuel: Über Pädagogik, 1803, S. 69

Franz Kafka

Der Kreisel, 19204

Über einen Philosophen, der im drehenden Kreisel „das Allgemeine“ erkennen will. Aber wenn er nach dem drehenden Kreisel greift, verliert der seinen Zauber und wird zu einem „dummen Holzstück“.

Der Kreisel

Ein Philosoph trieb sich immer dort herum, wo Kinder spielten. Und sah er einen Jungen, der einen Kreisel hatte, so lauerte er schon. Kaum war der Kreisel in Drehung, verfolgte ihn der Philosoph, um ihn zu fangen. Daß die Kinder lärmten und ihn von ihrem Spielzeug abzuhalten suchten, kümmerte ihn nicht, hatte er den Kreisel, solange er sich noch drehte, gefangen, war er glücklich, aber nur einen Augenblick, dann warf er ihn zu Boden und ging fort. Er glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also zum Beispiel auch eines sich drehenden Kreisels, genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen. Darum beschäftigte er sich nicht mit den großen Problemen, das schien ihm unökonomisch. War die kleinste Kleinigkeit erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit drehenden Kreiseln. Und immer wenn die Vorbereitungen zum Drehen eines Kreisels gemacht wurden, hatte er Hoffnung, nun werde es gelingen, und drehte sich der Kreisel, wurde ihm im atemlosen Laufen nach ihm die Hoffnung zur Gewißheit, hielt er aber dann das dumme Holzstück in der Hand, wurde ihm übel und das Geschrei der Kinder, das er bisher nicht gehört hatte und das ihm plötzlich in die Ohren fuhr, jagte ihn fort, er taumelte wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche.

Franz Kafka, Zur Frage der Gesetze und andere Schriften aus dem Nachlaß, Fischer Taschenbuch Verlag (Bd. 12447), Frankfurt am Main 1994, Seite 176-177

Es gibt einen Wikipedia-Artikel zu dem Text und Überlegungen dazu von Gerhard Schepers. Und weitere Abhandlungen5

Søren Kierkegaard

Ein Zweifler ist ein Memastigômenos (Gepeitschter); wie ein Kreisel erhält er sich kürzere oder längere Zeit unter den Peitschenschlägen auf der Spitze. Stehen kann er nicht, so wenig wie der Kreisel.

Kierkegaard, Entweder – Oder. 1843. 6

Den Aspekt der rastlose Bewegung auf der Stelle hat Helmut Aßmann in seiner Glosse Philosophie des Brummkreisel ausführlich dargelegt, wobei er zu dem Schluß kommt, daß der Brummkreisel ein Spielzeug ist, „das uns das Dilemma unserer Lebenskultur wunderbar vor Augen führt.“

Der Brummkreisel steht. Er rotiert nur. Die fehlende Vorwärtsbewegung ersetzt er durch Gebrumm. (…)
Ich kenne eine Reihe von Leuten, die leben wie Brummkreisel. (…) Viel Rotation, viel Gebrumm, aber keine Bewegung. Das ist nicht gut.

Helmut Aßmann, Philosophie des Brummkreisels, Studium Credo-Brief 1 / 99 7

  1. Zeitgenössisches Stifterbild vom Hochaltar der Kapelle des St.-Nikolaus-Hospitals, Bernkastel-Kues https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Nicholas_of_Cusa.jpg ↩︎
  2. http://www.stereo-denken.de/stereo/kreisel/kreisel.htm ↩︎
  3. Johann Andreas von Segner, unklar, welche Disputation Kant hier meint, vielleicht diese. ↩︎
  4. Entstanden vermutlich November/Anfang Dezember 1920. – Der Titel Der Kreisel stammt von Max Brod, der das im Manuskript titellose Prosastück aus Kafkas Nachlass veröffentlichte.  ↩︎
  5. Yoko Tawada, Spielzeug und Sprachmagie, Eine ethnologische Poetologie, Tübingen : Konkursbuchverlag, 2000, S. 137ff.
    Ries, Wiebrecht; Der Philosph und „der Kreisel“. In: Korff, Friedrich Wilhelm (Hrsg.); Redliches Denken, Stuttgart : Bad Cannstatt, frommann-holzboog, 1981, S. 154ff ↩︎
  6. Kierkegaard, Entweder – Oder. Ein Lebensfragment (Enten – Eller. Et Livs-Fragment), Erstdruck unter dem Pseudonym Victor Eremita 1843. Erster Teil. Diapsalmata. Übersetzt von Alexander Michelsen und Otto Gleiß, 1885; nach: https://www.aphorismen.de/zitat/177019 ↩︎
  7. web.archive.org/web/20010304160826/www.gruppe153.de/sc_199.htm#brumm ↩︎