Ausschnitt aus einem alten Stich von 1632 mit Kinderspiel-Szenen, in der Mitte ein Junge mit Peitschenkreisel

Für den Körper wohltätig

Pädagogen haben sich immer wieder mit Spielen, Spielzeug und auch mit dem Kreisel beschäftigt. Im Allgemeinen wird die körperliche Bewegung als nützlich angesehen:

Auch in Northbrookes Abhandlung gegen das Würfelspiel1 heißt es: „Spiele mit dem Kreisel und fliehe das Würfelspiel“, wie es schon Cato empfohlen hat2. Man legte also im Lande des Sports auch auf das Kreiselspiel zur Ausbildung des Körpers und als gutes Mittel gegen Müßigkeit und Laster großen Wert.3

Kreiselspiel wird hier offensichtlich nicht als Müßiggang betrachtet. Grasberger, der den erzieherischen Wert der Bewegung sehr schätzt, lässt es sich nicht nehmen, seine vierseitige Abhandlung über Kreisel im klassischen Altertum mit einem gehässigen Seitenhieb auf die Franzosen zu beenden:

Französisch heißt der Kreisel la toupie, le sabot, worüber jedoch bei Durivier und Jauffert das sonderbare Verwerfungsurtheil ausgesprochen wird, es sei dieses Spiel gar zu leicht und geistlos, weil es bloss Bewegung schaffe, sans même occuper l’esprit. Freilich, die Herren sorgen nur für esprit und ziehen ihn seit lange auf Flaschen!4

Die böse (und etwas alberne) Spitze gegen die Kollegen ist vielleicht mit nationalistischen Ressentiments zu erklären (wir sind im Jahr 1864), aber Grasberger tut Durivier und Jauffert auch grob unrecht. Denn es wird durchaus kein „Verwerfungsurtheil“ ausgesprochen, im Gegenteil wird der Wert solcher einfachen Spiele hervorgehoben:

Man kann sich vorstellen, dass sogar das Vergnügen bald zur Arbeit würde, wenn alle Spiele viel Berechnung und Vorbereitung erfordern würden. Deshalb braucht es einfache und stets bereite Spiele, die den Körper trainieren, um zu ermüden, ohne den Geist zu beanspruchen, genauso wie Spiele, die den Körper trainieren und den Geist genug beschäftigen, um die geistigen Fähigkeiten in einem kontinuierlichen, aber moderaten Zustand von Aktivität und Bewegung zu halten. Es liegt an den Eltern, an den Lehrern, eine kluge Auswahl all dieser Übungen zu treffen, sie weise zu variieren und nacheinander anzupassen; und in dieser umfangreichen Liste können selbst die gewöhnlichen Dinge wie Kreisel vorteilhaft ihren Platz finden. Nichts sollte vernachlässigt werden, nichts sollte verachtet werden, alles, was zu einem nützlichen Ziel beiträgt, ist wichtig, und die kleinsten Mittel sind oft nicht die weniger wertvollen.5

Übersetzt mit Hilfe von ChatGPT und DeepL

Der Kreisel wird nicht aber nur zur Ertüchtigung des Körpers als nützlich erachtet, sondern auch für die Bildung des Charakters.   

Namentlich wird durch diese Spielzeuge, die durch „Antreiben“ beliebig lange in Bewegung gehalten werden können, das Machtbewußtsein und damit die Entwicklung seines Persönlichkeitsempfindens und Willens mächtig gefördert. In weitgehendstem Maße ist dies beim Kreiselspiel der Fall.6

Entsprechend wird der mechanische Antrieb verteufelt, zumindest von Rudolf Kischnick:

Der von der Peitsche getriebene Kreisel ist ein so bekanntes Spiel, daß es nicht näher beschrieben zu werden braucht. Leider ist es, wie so vieles andere, aus der Mode gekommen und hat dem technischen Spielzeug weichen müssen, bei dem der Antrieb nicht mehr vom Kinde ausgeht, sondern von der Feder, von der Elektrizität usw. Dadurch wird eine Jugend groß, die es von frühzeitig verlernt, aus eigener Kraft etwas in Bewegung zu setzen.7

Kischnick, Turnlehrer an verschiedenen Waldorfschulen8, lässt eine Betrachtung über Ätherhüllen von Kindern und Kreiseln folgen, der es nichts hinzuzufügen gibt:

Die beste Zeit, das Kreiselspiel zu beginnen, liegt um das siebte Lebensjahr. In diesem Alter beginnt eine durchgreifende Metamorphose das Kind zu erfassen. Eine feine ätherische Hülle, die das Kindeswesen bis dahin umgeben hat, zerbricht, dafür erwacht aber im Kinde selbst ein Empfinden für Funktionen ätherischer Natur. Es streift seine Hülle ab, ähnlich wie das Küken aus dem Ei schlüpft, nur nicht physisch-leiblich, sondern geistig-ätherisch.

Ein Bild für dasjenige, was es gleichsam verlassen hat, ist der Kreisel. So wie von außen die kosmischen Kräfte die Ätherhülle des Kindes in Bewegung gehalten haben, so hält jetzt das Kind den Kreisel in Bewegung. Es übernimmt Funktionen, die vorher in anderen „Händen“ lagen. Das Kreiselspiel ist ein wunderbares Symbol dafür.

Um seinen ätherischen Organismus auch später in ständiger Bewegung zu halten, ist es notwendig, sich dauernd neue sittliche Impulse zu geben. Man unterschätze auch daher nicht das ungeheuer Anregende für die kindliche Psyche, der es gelingt, etwas Totes gleichsam zum Leben zu erwecken und durch eigene Anstrengung auch darin zu erhalten. Gewiß, es ist die Freude am Spiel, die den Impuls auslöst, aber eben deshalb, weil kein Zweck damit verbunden ist, kommt der Impuls aus tiefen Seelenschichten und ist daher um so bedeutender.

Weniger bedeutungsschwer betrachtet GuthsMuts das Kreiselspiel:

Es ist dieses Spiel selbst für erwachsene Kinder sehr unterhaltend, an sich unschuldig und für den Körper wohltätig, denn es kann, je nachdem man will, wenig und viel Bewegung veranlassen.9

Und vom „Brummenkreisel“ heißt es dort:

Von besonderen Gehalte ist dieses Spiel nicht, jedoch zur Belustigung nicht zu verachten.

Kant sieht in seiner Schrift „Über Pädagogik“ die Beschäftigung mit dem Kreisel eher unter praktischen Gesichtspunkten für die Wissenschaft:

Der Kreisel ist ein besonderes Spiel; doch geben solche Kinderspiele Männern Stoff zum weiteren Nachdenken und bisweilen Anlaß zu wichtigen Erfindungen. So hat Segner10 eine Disputation vom Kreisel geschrieben, und einem englischen Schiffskapitän hat der Kreisel Gelegenheit gegeben, einen Spiegel zu erfinden, durch den man auf dem Schiffe die Höhe der Sterne messen kann.11

Bild oben: Ausschnitt aus: Heyden, Jacob van der; Kinder Spiel oder Spiegel dieser Zeiten Kupferstich, Straßburg, 1632


  1. John Northbrooke, A treatise wherein dicing, dauncing, vaine playes or enterluds &c. commonly used on the Sabbath day, are reproued by the authoritie of the word of God and auntient writers, London: George Byshop. Um 1579 (S. 115 im Reprint von 1943) ↩︎
  2. Unter den „Distichen von Cato“, die im Mittelalter von mehreren Schriftstellern ins Deutsche übersetzt wurden, finden wir die folgende Mahnung: „Trocho lude, aleas fuge“. (Hills, Jeanette; Das Kinderspielbild von Pieter Bruegel d. Ä. (1560) : eine volkskundliche Untersuchung, Wien : Selbstverl. des Österr. Museums für Volkskunde, 1998, S. 68) ↩︎
  3. Hildebrandt, Paul; Das Spielzeug im Leben des Kindes, Berlin : Söhlke, 1904. (Nachdruck von Diederichs, 1979), S. 229 ↩︎
  4. Grasberger, Lorenz; Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum, Würzburg, 1864-1866 S. 80f.  Das erste der drei Bände seines Werkes Erziehung und Unterricht im klassischen Altertum hat den Titel Die Leibliche Erziehung bei den Griechen und Römern und enthält die Abteilungen Die Knabenspiele und Die Turnschule der Knaben. Mädchen kommen – angeblich entsprechend der Rolle der Frauen in der Antike – erst im 19. Kapitel des 3. Bandes vor. ↩︎
  5. Durivier, Jean-Augustin Amar und Jauffret, Louis François; La gymnastique de la jeunesse ou Traité élémentaire des jeux d’exercice …, Paris, 1803, S. 160f – Im Original:
    150. Le Sabot et la Toupie. [sabot ist hier der Wurfkreisel, auch wenn alle Übersetzungsprogramme meinen, es mit Holzschuh übersetzen zu müssen]
    Tous les exercices n’ont point, à la vérité, cet avantage, il en est de purement routiniers, et dont la pratique est généralement à la portée de tous les enfans. Mais tout est compensé; et l’on conçoit que le plaisir même serait bientôt un travail, si tous les jeux exigeaient beaucoup de calcul et de préparations préliminaires. Il faut donc de ces jeux simples et toujours tout prêts, qui exercent le corps, pour fatiguer, sans même occuper l’esprit, comme il en faut qui, en exerçant le corps, occupent assez l’esprit, pour en maintenir les facultés dans un état continuel, mais modéré, d’action et de mouvement. C’est aux parens ,:c’est aux instituteurs, à faire de tous ces exercices un choix judicieux, à les varier, à les modifier sagement les uns après les autres; et dans cette grande nomenclature, il n’y a pas jusqu’au vulgaire, sabot et à la toupie, qui ne puissent trouver avantageusement leur place. Rien n’est à négliger , rien n’est à dédaigner , de tout ce qui peut concourir à un but utile, et les plus petits moyens ne sont pas souvent les moins précieux. ↩︎
  6. Enderlin, Max; Das Spielzeug in seiner Bedeutung für die Entwicklung des Kindes, Langensalza : H. Beyer und Söhne, 1907, S. 36 ↩︎
  7. Kischnick, Rudolf; Was die Kinder spielen, Stuttgart : Verlag Freies Geistesleben; 1982 ↩︎
  8. https://www.geistesleben.de/Autoren/Rudolf-Kischnick.html ↩︎
  9. GuthsMuts, Johann Christoph Friedrich; Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und Geistes, 1796 (Nachdruck: Berlin : Sportverl., 1959) S. 224 ↩︎
  10. Johann Andreas von Segner, unklar, welche Disputation Kant hier meint, vielleicht diese. ↩︎
  11. Kant, Imanuel: Über Pädagogik, 1803, S. 69 ↩︎