Postkarte mit Zeichnung: 3 Mädchen mit Peitschenkriesel

Jungen- oder Mädchenspielzeug

Ist der Kreisel ein Jungenspielzeug oder wurde er auch von Mädchen benutzt? Die historischen Quellen geben ein verwirrendes Bild, eine der ältesten Darstellung ist eine griechische Vase aus dem 5. Jhdt. v. Chr., die überraschenderweise zwei junge Frauen mit Peitschenkreiseln zeigt.1

Auch später scheint der Kreisel nicht ausschließlich von Jungen gespielt worden sein. Eine Sammlung von niederländischen Fliesen mit Darstellungen von Kinderspielen, zumeist aus dem 17. Jahrhundert enthält sich auch solche, die Mädchen beim Kreiseln darstellen.2

Auch GutsMuths führt 1796 in seinem Register, in dem er mit * und  anzeigt, „welche Spiele nur für Knaben, und welche nur für Mädchen geeignet sind“, das Kreiselspiel ohne Markierung auf, d. h. für beide Geschlechter passend.3

In den letzten Jahren, bevor der Peitschenkreisel vom Verkehr völlig von der Straße verdrängt wurde, also etwa 1930-1960, ist er nach Auskunft vieler Zeitzeugen auch von Mädchen benutzt worden. Eine Untersuchung über das Spielzeug siebenjähriger Kinder aus dem Jahr 1960 ergab, dass noch 7,9% der Mädchen und 11,9% der Jungen einen Kreisel besitzen.4 Dazu heißt es:

Auch der Kreisel scheint zu verschwinden, wahrscheinlich als unmittelbare Folge des Straßenverkehrs.

Aus dem Nachkriegsdeutschland der 60er Jahre beschreibt Marianne Schulz eine kleine List eines siebenjährigen Mädchens5:

Isabella benötigte gewöhnlich länger als Gitti für die Schulaufgaben. Doch wenn sie es endlich geschafft hatte und der ganze Schulkram weggeräumt war, dann gab es kein Halten mehr, und sie stürmte förmlich hinaus. Wie sie wußte, hüpfte die Schwester unter den Linden in der Bahnhofstraße in den mit Kreide bemalten „Klinkern“ des Gehweges in den Kästchen herum. Um in den Besitz von „Himmel und Hölle“ zu kommen, ließ Isabella den Kreisel tanzen, und schon war der Zwilling hinter diesem Kleinod her. Bella ließ die kleine Peitsche fallen und sprang in die Kästchen.

Auch in dem 1952 erschienen Kinderbuch von Annie Martin „Toni kreiselt um die Welt“ ist die Hauptperson ein Mädchen, das es im Kreiseln zu einer solchen Kunstfertigkeit gebracht hat, dass sie von einem Zirkusdirektor entdeckt wird und mit ihrer Kreiselnummer mit auf Tournee geht. Nirgendwo klingt an, dass das Kreiselspiel eines Mädchens etwas Ungewöhnliches sei. In Gegenteil heißt es sogar im Klappentext:

Wenn ein Mädchen gern kreiselt, so ist das natürlich nichts Besonderes. Wenn man aber, wie Toni, gleich 3, 4 und sogar 5 Kreisel auf einmal tanzen lassen kann, …

Doch bevor das Kreiselspiel der Mädchen so selbstverständlich wurde, gab es auch andere Meinungen. Insbesondere bei einigen Pädagogen findet sich die Feststellung, dass der Kreisel eher den Naturell der Jungen gemäß sein als dem der Mädchen. So meint Rousseau6:

Knaben suchen Bewegung und Lärm – Trommeln, Kreisel, kleine Wagen; Mädchen haben lieber etwas fürs Auge, und das, was zum Schmuck gereicht – Spiegel, Schmucksachen, Seidentüchlein, vor allem Puppen; die Puppe ist das besondere Vergnügen dieses Geschlechts – damit ist ganz offenbar ihre Neigung von ihrer Berufung bestimmt.

Kein Gedanke daran, daß etwa die unterschiedliche Ausstattung der Kinder mit Spielzeug einen Grundstein für die verschiedenen „Berufungen“ gelegt haben könnte. Noch krasser spiegelt sich das herrschende Rollenbild bei Groos7:

Bei wenigen Spielsachen trifft die Illusion, etwas Lebendiges vor sich zu haben, das sich unserer Macht fügen muß, so deutlich hervor  wie hier. … Hier zeigt sich also fast ein Verhältnis wie das des Mädchens zu seiner Puppe, nur daß sich dabei in dem Knaben andere Triebe geltend machen: das Mädchen verhält sich zum beseelten Objekt als Mutter, der Knabe eher als Lehrer; in ihm regt sich der Herrschertrieb, der andere zu ‘dressieren‘ versteht, bis sie nach seiner Pfeife tanzen.

Der Autor eines englischen Kinderbuches um 1800 rät hingegen auch den Mädchen zum Kreiselspiel, und zwar aus gesundheidlichen Gründen. Die Bewegung nach längerer Nadelarbeit täte ihnen gut8:

This is good execise, and we know no reason why girls should not use it, in moderation, as well as boys; for when they have been working with the needle for some time in cold weather, the exercise will tend much to promote their health.

Natürlich sollten die Mädchen das Spiel nur „in moderation“ – maßvoll spielen. Zuviel Bewegung war dann doch wohl unschicklich. 

Auch aus der Sicht der Kinder wurde zwischen dem Spiel der Mädchen und Jungen unterschieden. So berichtet ein niederländischer Multimedia-Designer, der sich den Künstlernamen „van Tol“ (Tol=Kreisel) gegeben hat, aus seiner Jugend9:

Es gab zwei Sorten, einen sogenannten Jungenkreisel und den in unseren Kinderaugen viel leichter zu spielenden Mädchenkreisel.

Dies ist natürlich die Einschätzung eines Jungen.

Eine Gesamtsicht der Quellen legt den Schluss nahe, dass der Kreisel überwiegend von Jungen gespielt wurde, aber auch Mädchen ihn benutzt haben – je nach Region und Zeit unterschiedlich. Oder, wie Gould in diesem Zusammenhang bemerkt10:

The tides of liberation rise and fall with uneven force.

Als die Mädchen in den 50er/ 60er Jahren die Gleichberechtigung beim Kreiselspiel erlangt hatten, wurden Jungen und Mädchen gleichermaßen vom zunehmenden Verkehr von der Straße vertrieben und der Peitschenkreisel stirbt langsam aus. Heute ist der Peitschenkreisel zwar noch in Spielzeuggeschäften erhältlich, aber gekauft wird er wohl eher aus nostalgischen Gründen von den Großeltern. Kinder sieht man nicht mehr damit spielen.

Bild oben auf der Seite: Französische Postkarte
Bilder von kreiselnden Mädchen aus den 20er bis 50er Jahren: 1 2 3 4 5


  1. https://www.metmuseum.org/art/collection/search/244815 ↩︎
  2. Pluis, Jan; Kinderspelen op tegels, Assen : Van Gorcum, 1979 ↩︎
  3. Guts Muths, Johann Christoph Friedrich; Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und Geistes, Berlin: Sportverl., 1959 S. 513ff. Das Werk ist ursprünglich von 1796, da noch ohne Zuordnung zu Jungen und Mädchen im Register! Im Text bezeichnet GutsMuths Kreiseln als Knabenspiel! ↩︎
  4. Herr, Alfred; Vom Spiel und Spielzeug siebenjähriger Grundschulkinder, Hamburger Lehrerzeitung 1960, Nr. 17, S. 12 ↩︎
  5. Schulz, Marianne; Ach, wüßt‘ ich doch den Weg zurück! : eine Jugend im geteilten Deutschland der 60er Jahre / Marianne Schulz. – Orig.-Ausg., 1. Aufl. – Berlin : Frieling, 1997  ISBN 3-8280-0407-5  (https://web.archive.org/web/20020711195518/http://www.frieling.de/txt/3-8280-0407-5/01.htm) ↩︎
  6. Rousseau, Jean-Jacques; Über die Erziehung, 1762, zit. nach: Hein Retter, Spielzeug : Handbuch zur Geschichte und Pädagogik der Spielmittel, Weinheim [u.a.] : Beltz, 1979 ↩︎
  7. Groos, Karl; Die Spiele der Menschen, G. Fischer, 1899, S. 139 ↩︎
  8. Tuer, Andrew, W.; Pages and Pictures from forgotten Children Books, London 1898 nach D.W. Gould, The Top, Universal Toy, Enduring Pastime, New York, Clarksen N. Potter, 1973, S. 10, 90 ↩︎
  9. https://web.archive.org/web/20010429071215/www.universal.nl/users/atol/home.html ↩︎
  10. Gould, D.W.; The Top, Universal Toy, Enduring Pastime, New York, Clarksen N. Potter, 1973 ↩︎