Postkarte Kreiselspiel 1906, Kinder im Park mit Peitschenkreiseln, Ausschnitt

Ein Frühjahrsspiel?

Das Kreiselspiel war in vielen Kulturen an eine bestimmte Jahreszeit gebunden. Für Mitteleuropa, wo hauptsächlich der Peitschenkreisel gespielt wurde, war es das Frühjahr:

Die ersten Spiele, daran sich die Knaben am Beginn des Frühlings erfreuen, sind das Kreiselschlagen und das Schussern.1

Mit größter Sicherheit tritt er im Frühjahr in unseren Städten auf. Keinerlei Verabredung findet unter den Knaben statt, aber er ist da, sobald es die Jahreszeit erlaubt.2

Das Erscheinen der Kreisel zu einer bestimmten Zeit war so typisch, dass es wie die ersten Schwalben sogar als Zeichen des Frühlings betrachtet wurde:

Es war ein untrügliches Zeichen, daß der Frühling begonnen hatte, wenn die Kinder auf der Straße ihre Kreisel peitschten.3

Ebenso wie das Schussern bezeichnet auch das Kreiseltreiben den Beginn des Frühjahres.4

Ebenso hatte das Treiben der Holzkreisel begonnen und das Seilspringen, welche das Frühjahr untrüglicher anzeigen als Amsel- und Stargeschwatz.5

Ein sicheres Zeichen für den kommenden Frühling sind bestimmte Kinderspiele. Wenn die Kinder „trieseln“, dann ist es soweit.6

Nur in Frühjahr?

Erstaunlicherweise war der Frühling nicht nur die bevorzugte Kreiselzeit, es war bisweilen die einzig erlaubte. Zu anderen Jahreszeiten war das Kreiselspielen mehr oder weniger verpönt.

Die jahreszeitliche Folge der Kinderspiele untersteht einem ungeschriebenen Gesetz. Mit den ersten Frühlingstagen erscheinen der Kreisel, der Reifen, die Marmeln.7

ein Frühlingsspiel, das spätestens Gründonnerstag aufhören mußte, weil man mit der Peitsche sonst „den Heiland gezwickt“ hätte.8

Auch in Innsbruck wurde mit dem Totz’n, einem kleinen Wurfkreisel, „immer nur bis Ostern gespielt“.9 In England waren zeitweise die Regeln noch strenger; wer außerhalb der richtigen Zeit mit dem Kreisel spielte, dem wurde er von den anderen Kindern weggenommen. Dieses „legitime Stehlen“ hatte sogar eine eigene Bezeichnung: „smugging“.10 Dazu gab es einen Vers, der noch um 1900 in London gebräuchlich gewesen sein soll:

Tops are in, spin ‚em agin;
Tops are out, smugging about
11

Erklärungsversuche

Die Frage, warum der Kreisel gerade und nur im Frühjahr gespielt wurden, ist schwer zu beantworten. Es gibt dazu viele Erklärungsversuche, die alle nicht recht überzeugen können. Vielleicht hat es mit der Bodenbeschaffenheit zu tun, da man auf aufgeweichten Böden nicht Kreiseln konnte.

Sobald das Frühjahr kam und die Straßen trocken waren …12

Solche Bodenverhältnisse hätte man jedoch auch im Sommer oder Herbst gefunden. Auch das Argument, dass

viele für das Frühjahr charakteristischen Spiele Bodenspiele (sind), die offene Bodenflächen ohne hohen Bewuchs verlangen,13

ist nicht recht überzeugend, denn solche Flächen finden sich zu jeder Jahreszeit, zumal in der Stadt.

Der Bewegungsdrang nach einem langen Winter in der Stube wird als Grund genannt, aber haben die Kinder im Winter nicht draußen gespielt und gibt es nicht bewegungsintensivere Spiele? Es gibt auch die Vermutung, dass die Kinder die Spiele nach der Temperatur aussuchen:

Im Allgemeinen kann festgestellt werden, daß Spiele, die viel Bewegung verlangen, in der kälteren Jahreszeit gespielt werden.14

Das mag zwar ein Beweggrund sein, erklärt aber nicht, warum nicht im auch Herbst gekreiselt wurde. Außerdem wird „Schussern“, also das Murmelspiel immer gleichzeitig mit dem Kreiseln als Frühlingspiel genannt, obwohl es nicht mit viel Bewegung verbunden ist.

Zu der Regel, daß im Frühjahr gekreiselt wird, gibt jedoch Ausnahmen. Im Winter wurde auf den glatten Eisflächen Kreisel gespielt. Das bezeugen z. B. verschiedene Bilder von Breughel15

De Cock und Teirling misstrauten einer Klassifizierung der Spiele nach dem Kalender und haben um 1900 eigene Untersuchungen auf einem Schulhof in Belgien gemacht. Viele Spiele wurden zu unterschiedlichen Jahreszeiten gespielt; Kreiseln notieren sie erstaunlicherweise für Oktober, November.16

Aus der Ming-Dynastie in China (1386-1644) wird berichtet, dass mit dem Kreisel „zum Beginn des Frühjahrs, wenn die Weiden knospen,“ gespielt wird.17

Vielleicht gibt es auch gar keinen tieferen Grund für die Abfolge der Spiele in Jahr, sondern sie ist zufällig entstanden und dann von Generation zu Generation weitergegeben worden?18

Einst nämlich, da hatte jedes Kinderspiel im Freien seine Saison, dem Kluckern folgte bis gegen Ostern hin das Kreiseltreiben, dieses wurde abgelöst von Ballspielen, ihnen folgte das Seilspringen, dann um Himmelfahrt herum war das Hüpfspiel «Himmel und Hölle» oder «Wochentägerlen» üblich, das Stelzengehen, die vielen Reigen-, Fang- und Versteckspiele, und schliesslich beschlossen das Drachensteigenlassen, Schlitteln und Blindekuh das Spieljahr. Es war nicht bloss ein sinnvolles Mit-der-Jahreszeit-Gehen, sondern auch ein abwechslungs- und bewegungsreiches Spielen.19

Das Bild ist ein Ausschnitt einer Postkarte von 1906, Kinder beim Kreiselspiel in Hamburg, angeblich in den Wallanlagen. Die Sträucher ohne Blätter deuten auf das frühe Frühjahr hin.


  1. Zingerle, Ignaz Vinzenz; Das deutsche Kinderspiel im Mittelalter, Innsbruck : Wagner, 1873, S. 27 ↩︎
  2. Andree, Richard, Das Kreiselspielen und seine Verbreitung, Globus 69, 1896, S. 371 ↩︎
  3. Gläser, Manfred; „Daz kint spilete und was fro“ : Spielen vom Mittelalter bis heute ; Lübeck : Schmidt-Römhild, 1995, S. 82 ↩︎
  4. Boesch, Hans; Kinderleben in der deutschen Vergangenheit: mit Abbildungen nach den Originalen aus dem 15. – 18. Jahrhundert, Leipzig: Diederichs, 1900, S. 73 ↩︎
  5. Gaiser, Gerd; Eine Stimme hebt an, München, Hanser, 1950, S. 336f. ↩︎
  6. Willy Römer, Kinder auf der Straße – Berlin 1904-1932, Berlin : Dirk Nishen Verlag in Kreuzberg, 1983, S. 27 ↩︎
  7. Lehmann, Otto: Spiele und Spielzeug in Schleswig-Holstein, in: Die Sachgüter der der deutschen Volkskunde, 1934 ↩︎
  8. Hinrichsen, Torkild; Kinderspiele im Freien, Altonaer Museum, Hamburg 1979. An anderer Stelle wird als Quelle angegeben: Mathys, F.K.; Im Freien gespielt. Kleine Historie des Kinderspiels, Basel: Kirschgarten (Verlag), 1975 ↩︎
  9. https://web.archive.org/web/20070927180854/http://www.mader-kreiselmanufaktur.at/seiten/tradition.html ↩︎
  10. Gomme, Alice Bertha, The traditional games of England, Scotland and Ireland : with tunes, singing-rhymes, and methods of playing according to the variants extant and recorded in different parts of the kingdom, New York : Dover Publ., 1964, S. 302: „Tops is one of those games which are strictly limited to particular seasons of the year, and any infringement of those seasons is strictly tabooed by the boys.“  ↩︎
  11. Hone, William; The Every-day Book and Table Book, v. 1 (of 3) https://www.gutenberg.org/ebooks/53275 ↩︎
  12. Wehrfritz GmbH, Rodach, Kindergartenbrief, Info-Best. Nr. 205121, um 1990 ↩︎
  13. Hinrichsen, Torkild, Spielzeug – ein Kindertraum, aus der Zeitschrift Schleswig-Holstein 12/95 ↩︎
  14. Pluis, Jan; Kinderspelen op tegels, Assen : Van Gorcum, 1979, S. 15 ↩︎
  15. U. a. Volkszählung zu Bethlehem, 1566  ; Jäger im Schnee, 1565  ↩︎
  16. De Cock, Alfons und Teirling, Is., Kinderspel & Kinderlust in Zuid-Nederland , 1. Teil, S. 24f ↩︎
  17. Traditional Chinese Games oder https://web.archive.org/web/20010331202351/www.chcp.org/Vgames.html ↩︎
  18. Ausführlicher zur Frage jahreszeitlicher Einflüsse auf das Kinderspiel siehe: Baader, Ulrich; Kinderspiele und Spiellieder I, Untersuchungen in württembergischen Gemeinden, Tübingen, Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 1979, S. 169ff –
    Für das Kreiseln als Frühjahrsspiel führt er zwei weitere Quellen an:
    Kanthack, Siegfried; Pommersche Kinder spielen und singen, Kinderreime, Kinderspiele und Kinderlieder aus Broitz, Krs. Greifenberg. Osterwieck/Harz, Berlin : A. W. Zickfeldt Verlag, 1939, S. 19
    Heinz Wütherich, Volkstümliche Spiele in Schwierdingen S. 32 (eine Maschinengeschriebene Zulassungsarbeit, die man vielleicht im Landesmuseum Württemberg wiederfinden könnte) ↩︎
  19. Mathys, F.K.; Im Freien gespielt, Kleine Historie des Kinderspiels, Herausgegeben von den Freunden des schweizerischen Turn-und Sportmuseums, Basel, 1975. Aus dem Vorwort von Trudy Schmidt. ↩︎